Im Umfeld der digitalen Revolution sind Begriffe wie künstliche Intelligenz, moderne Arbeitswelten oder agile Organisationen in aller Munde. Was hat es mit einer agilen Organisation auf sich und warum wird dieser Trend unser Verständnis von Arbeit verändern? Ein Beitrag von Andreas Slogar.
Was unter einer agilen Organisation oder einem veränderungsfähigen Unternehmen zu verstehen ist, kann mit wenigen Worten beschrieben werden. Grundsätzlich geht es darum, ein gewinnorientiertes Unternehmen wettbewerbsfähig zu halten. Dazu muss es jedwede Veränderung seines Umfeldes frühzeitig erkennen, seine Produkte oder Dienstleistungen anpassen. Je schneller ein Unternehmen Veränderungen erkennen, sich daran anpassen und eigene Produktneuerungen veröffentlichen kann, umso höher die Chancen, weiterhin im Markt zu bestehen.
Im Zeitalter digitaler Geschäftsmodelle sind die Abstände, in denen sich Branchen oder sogar ganze Industrien verändern, sehr kurz. Disruptiv arbeitende Firmen hebeln mit völlig neuen Technologien und Geschäftsmodellen ganze Marktgefüge aus. Das hat auch Effekte auf alle anderen Marktteilnehmer. Firmen wie Tesla, Google oder N26 sind hierfür bekannte Beispiele. Und an dieser Stelle kommt, zusätzlich zur technologischen Innovationsdynamik, die agile Organisation ins Spiel.
Jedes Wirtschaftsunternehmen träumt davon, eine reibungslos funktionierende Organisationsstruktur zu besitzen und zu betreiben: Alle Prozesse gehen nahtlos ineinander über. Die Organisationsstruktur ist möglichst kosteneffizient. Alle Mitarbeiter sind umfassend ausgebildet und einsatzbereit. Führungskräfte sollen die Arbeiten, die für den wirtschaftlichen Erfolg der Firma notwendig sind, anweisen und deren Ausführung steuern. Ein Denkmodell ist fast allen Unternehmen weltweit in der Struktur ihrer Organisation gemein: Es wird Scientific Management oder auch Taylorismus genannt. Fundament dieses Denkmodells ist die Überzeugung, dass ein reibungsloser Betriebsablauf zu gewährleisten sei. Jeder Arbeitsschritt in einem Unternehmen müsse dazu nur genau genug festgelegt und ausgeführt werden. Dabei wird ein Unternehmen wie eine Art Automat verstanden. Dessen Konstruktion wird immer weiter ausgefeilt, um möglichst effizient und effektiv zu funktionieren. Arbeitsteilung und Geschäftsprozessdefinitionen, die Wertschöpfungsketten unterstützen, sind dabei die Materialien und Werkzeuge. Kann der Automat die Anforderungen der Umwelt nicht mehr erfüllen, wird seine Konfiguration durch eine Reorganisation umgestellt. Die nötigen Anpassungen werden meist von einer zentralen Personengruppe, überwiegend aus der Unternehmensführung, durchdacht und geplant. Reorganisationen können u.a. durch folgende Faktoren bedroht werden: unvorhergesehene Veränderungen des Marktes sowie der Veränderungswille und die Anpassungegschwindigkeit der Belegschaft.
Die ideale Organisation eines Unternehmens ist also jene, die jederzeit und immer wieder aufs Neue an Veränderungen angepasst werden kann. Und zwar ohne den Kraftakt und die Risiken einer Reorganisation bewältigen zu müssen. So könnten neue Produkte entwickelt werden, bevor der Markt weiß, dass er sie benötigt. Stichwort: iPhone. Mitarbeiter, die jede Veränderung aktiv vorantreiben, sollen die Anpassungen zu minimalsten Kosten realisieren.
Soweit die Wunschvorstellungen der Wirtschaft. Aus der Sicht der Mitarbeiter sieht die Welt etwas anders aus. Gerade die jüngeren Generationen gut ausgebildeter Menschen stellen hohe Ansprüche an ihren Arbeitgeber. Selbstwirksamkeit und die Auseinandersetzung mit einer abwechslungsreichen und anspruchsvollen Tätigkeit sind zentrale Parameter. Führungskräfte werden als Unterstützer verstanden, die ihren Mitarbeitern auf Augenhöhe begegnen. Sie sollen nicht mehr bloß Vorgesetzte sein, die Arbeitsanweisungen und Leistungsvorgaben definieren oder Arbeitsergebnisse bewerten. Arbeitszeit ist Lebenszeit. Sie wird nicht gegen Geld zur Verfügung gestellt oder eingetauscht, sondern will in sinnvolle und sinnstiftende Arbeitsergebnisse investiert werden.
Dieser Wechsel von Paradigma und Selbstverständnis fördert und fordert immer mehr Selbstorganisation, Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsautorität des angestellten Mitarbeiters. Problemlösungen werden in einem interdisziplinären Team entwickelt. Ein Gegenmodell zur kosteneffizienten Prozessdurchführung. Der Sinn und die Wirksamkeit der eigenen Arbeit sind relevanter geworden als Einkommenswachstum, Macht und Status. Agile Organisations- und Kollaborationsformen sind die zukünftigen Modelle, die derartige Strömungen aufnehmen, unterstützen und ermöglichen können.
Auf den ersten Blick scheinen sich die Sehnsüchte der Wirtschaft und die Anforderungen der Mitarbeiter ideal zu ergänzen. Die einen wollen in ihrem beruflichen Umfeld mehr Gestaltungsraum für sich nutzen. Die anderen benötigen gestaltende Mitarbeiter, um die Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens zu entwickeln und sicherzustellen. Wären da nicht die Ängste und Befürchtungen all jener, die in den Strukturen des beschriebenen Automaten über viele Jahre hinweg großartige Leistung gebracht haben. Sie fühlen sich von agilen Organisationsformen bedroht: Führungskräfte, die Entscheidungsautorität abgeben sollen. Manager, deren Leistung als Unterstützer von Mitarbeitern relevanter ist als ihr Status in der Hierarchie. Wechselnde Aufgabengebiete, die das Wissensspektrum der Mitarbeiter erweitern, verdrängen hoch spezialisierte Aufgaben und ihre Experten, die durch detaillierte Kompetenz und langjährige Expertise die zentralen Wissensträger ihrer Abteilungen sind.
Und dann sind da noch die Erfahrungen aus vorangegangenen Reorganisationen. Haben diese nicht in der Wahrnehmung der Mitarbeiter regelmäßig zu einer Reduzierung der Belegschaft und einer Verdichtung der Arbeit geführt? Ist eine agile Organisation nichts anderes als der in Arbeitnehmerfreundlichkeit getarnte Motor permanenter Effizienzsteigerung und Arbeitsverdichtung im Unternehmen? Ist die Übertragung von Entscheidungsautorität und Selbstorganisation nicht ein Mittel, um Mitarbeiter in die Verantwortung für Fehler zu bringen? Werden so nicht Abmahnungen und Kündigen erleichtert und die Nebenpflichten des Arbeitgebers aufgeweicht?
Die beschriebenen Perspektiven stellen nur eine Auswahl vielschichtiges Fragestellungen, Potentiale, aber auch Bedenken dar. An diesen wird der Konflikt aus der Fragestellung sichtbar: Dient die Wirtschaft dem Menschen oder der Mensch der Wirtschaft? Die Einsicht, dass es eine nachhaltige und ressourcenschonende Gestaltung von Wirtschafträumen braucht, scheint sich gegenüber einem immerwährenden Wachstumsdogma durchzusetzen. Dadurch wird auch die Frage nach einer Neugestaltung unseres Verständnisses von sinnhafter und ebenfalls nachhaltiger Arbeitsgestaltung zwangsläufig notwendig.
Dabei gilt es, die Errungenschaften des Arbeitnehmerschutzes weiterhin zu erhalten und um Wege der individuellen Entwicklung und aktiven Gestaltung des individuellen Arbeitsumfeldes zu ergänzen. Und an dieser Stelle können Gewerkschaften und Betriebsräte einen wertvollen Beitrag leisten. Sie müssen auch weiterhin die Interessen der abhängigen Berufstätigen vertreten, aber eben gleichzeitig deren Bestreben nach Selbstwirksamkeit und persönlicher Entfaltung auch im beruflichen Umfeld unterstützen. Vielleicht öffnet der Diskurs über die Neuausrichtung traditioneller Denkmodelle auch einen Weg, prekäre Arbeitsverhältnisse sukzessive aufzulösen. So kann möglicherwiese auch die Wertschätzung von Berufsbildern korrigiert werden, die für die Gestaltung und Unterstützung unserer Gesellschaft hochgradig relevant sind, aber durch die Fixierung auf Profitmaximierung nicht das zu erwartende Ansehen genießen.
Andreas Slogar war in 23 Ländern, den USA, Europa, dem Mittleren Osten und Afrika tätig und hat u. a. als CIO umfassende Erfahrung in strategischer und operativer Managementarbeit aufgebaut. Er ist Gründer des Blue Tusker-Expertennetzwerks. Alle Honorare des Netzwerks werden an gemeinnützige und karitative Organisationen gespendet. Slogar ist als Experte auf die Transformation ganzer Unternehmen in einen agilen Kollaborationszustand spezialisiert. Er ist Autor diverser Fachartikel und des Buches „Die agile Organisation“, erschienen im Hanser Verlag.