Die Zahl der Internetnutzer steigt jährlich an: Die Internationale Fernmeldeunion (ITU) schätzt, dass Ende 2019 4.1 Mrd. Menschen – das sind ca. 53 Prozent der Weltbevölkerung – das Internet nutzten. Die Zahl der täglich empfangenen Email steigt ebenso kontinuierlich an, wie die Zahl der aktiven Social-Media-Nutzer. Ein Text von Sandra Siebenhüter.
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Viele erinnern sich noch an den Optimismus, als das Internet ab den 1990er Jahren immer mehr Verbreitung fand: Die Hoffnung war eine Kommunikations-Revolution und Transparenzoffensive. Ja man glaubte sogar, dass es zu einer weltweiten Demokratiebewegung kommen wird, wenn jeder Zugang zu Hintergrundinformationen habe, jeder selbst Aussagen von Politikern recherchieren könne. Die öffentlich ausgetragene Meinungsvielfalt würde, so eine optimistische Leitidee, dann auch zu besseren politischen Lösungen führen. Auch wenn keiner das Internet und die damit verbundenen Möglichkeiten von uns heute missen möchte, wissen wir es 30 Jahre später doch besser: Fake News, Echokammern, Likes, Follower und Social Bots manipulieren die öffentliche Meinung und monopolistische Tendenzen großer Plattformanbieter lassen die damaligen Ideen von Gleichberechtigung, Meinungsvielfalt und „fairem Wettbewerb“ immer mehr in den Hintergrund treten.
Ja, das Internet hat die Welt auf eine spezifische Art kleiner gemacht, Stichwort „digitales Dorf“. In den Straßen von Sydney spazieren gehen, mit Google Street View kein Problem. Vorlesungen in Harvard besuchen, MOOCs machen es möglich. Russische Serien mit Netflix schauen oder weltweite Preisvergleich von Produkten und Dienstleistungen über Amazon und Alibaba, alles easy.
Dennoch scheinen Zweifel angebracht, ob wir die Bewohner dieses Dorfes auch besser kennen, obwohl sie nur noch wenige Klicks voneinander entfernt sind. Zeigen wir für die Menschen in den USA, in Korea oder in Russland mehr Verständnis für ihre politischen Einstellungen oder wirtschaftlichen Sorgen? Ist durch die technische Verbundenheit auch ein Gefühl der sozialen Verwobenheit entstanden? Ist unser Verständnis gewachsen, dass unsere europäischen Konsumgewohnheiten vielleicht am anderen Ende Umweltverschmutzung oder Kinderarbeit vorantreiben? Wenn wir ehrlich sind: Wohl nur bedingt.
Eine neue Zeitrechnung beginnt. Die Pandemie, ausgelöst durch den Covid19-Erreger, lässt die Welt nicht nur zum Dorf werden, sondern die Nachbarschaft, der wir bisher nur freundlich winkten, rückt näher, ja sie zieht quasi bei uns ein. Denn wir allen machen jetzt eine Erfahrung, die niemand von uns bisher kannte: Was ein einzelner Mensch in China, im Iran, in den USA oder in Spanien macht, hat unmittelbaren Einfluss auf unser aller Leben. Möglicherweise war dies bisher auch schon so, aber es hat die wenigsten von uns interessiert, es berührte uns nicht persönlich in unserem Alltagskosmos. Die Nachbarn eben.
Heute erleben wir in aller Brutalität die soziale Verwobenheit und ein Gefühl von gegenseitiger Abhängigkeit und Zusammenhörigkeit, wie wir es uns wohl nie vorstellen konnten. Das Virus und seine Folgen ist wohl das einzige Thema der letzten Jahrzehnte, das uns tatsächlich weltweit gleichzeitig verbindet. Es ist im bitteren Sinn auch gleichmachender als alles vorher, denn es kennt keine Alter, kein Geschlecht, keine Nationalität und keinen Status: Merz in Deutschland, Johnson in Großbritannien oder Rita Wilson, die Ehefrau von Tom Hanks in den USA sind nur drei Beispiele hierfür.
Vielleicht bedurfte es einer solch unsichtbaren Bedrohung und damit einer tiefen emotionalen (Angst-)Erfahrung, um die Bedeutung von Wechselseitigkeit, von gegenseitiger Abhängigkeit und ja auch Solidarität zu verstehen. Zu erkennen: Es gibt Phänomene, die sind sozial gemacht, nicht individuell verschuldet: Sollte heute jemand an dem Virus erkranken, ist dies nicht seine persönliche Schuld und sollte er gesund bleiben – was jedem zu wünschen ist – nicht seine persönliche Leistung. Vielleicht hilft uns die Pandemie dieses besser zu verstehen. Denn jeder ist verletzlich, kein noch so starkes Land, kein Betrieb und kein Mensch ist eine Insel. Jeder ist mit jedem verwoben, auch wenn ihm das (noch nicht) bewusst ist.
Mag uns das Internet technisch vernetzt haben, es hat bisher eher den Individualismus befördert, weniger das Bewusstsein der Interdependenz. Haben wir auch die vergangenen Jahre weltweit private Kontakte über Facebook gepflegt oder mit ausländischen Projektpartnern Mails ausgetauscht, noch nie wurde es uns so bewusst: Wir sind als Gesellschaft abhängig von Wohl des Anderen, genauso wie dieser abhängig ist von unserem. Mögen wir bisher nur über das technische Band verbunden sein, so erleben wir jetzt: Wir sind auch über ein soziales Band verbunden.
Dieses zu erkennen bietet uns eine Chance, die wir nutzen sollten, um neue Fragen zu stellen, an vielen Orten gleichzeitig: Wie stellen wir uns unsere Gesellschaft vor?
Denn neben diesem singulären Ereignis der Pandemie gibt es noch viele weitere Phänomene – sei es der Klimawandel, die Umweltverschmutzung, die Einkommensunterschiede entlang einer globalen Wertschöpfungskette oder die Daseinsvorsorge – alle diese können ebenfalls nicht individuell, sondern nur gemeinsam geregelt werden können. Es ist auch eine Chance dazuzulernen.
Gemeinsame Zwänge bergen die Chance gemeinsamer Anschauungen. Ob es dann zum gemeinsamen Handeln kommt, bleibt zwar offen – dieses hängt oftmals mit politischen Abwägungen zusammen – doch wir alle sind auch eine politische Stimme und können Druckpotential entfalten. Jeder in seinem Betrieb, in seiner Kommune.
Denn dass wir in einem gemeinsamen Boot sitzen sollte inzwischen jeder verstanden haben. Wir sind auf den anderen Menschen angewiesen. Auch wenn ich den Anderen noch nie gesehen habe, seinen Namen nicht kenne, ihn niemals treffen werden, aber ich weiß: Nur im Gedanken der sozialen Verbundenheit entwickeln wir uns als Weltgesellschaft im unserm globalen Dorf weiter. Und nach der Pandemie ist vor der Pandemie.
Eine bittere Wahrheit bleibt dennoch: Je einkommensstärker, d.h. auch vielfach gebildeter, die Bewohner sind, desto eher profitieren sie von den Möglichkeiten der Digitalisierung (vgl. Home Schooling) und desto weniger sind sie den Gefahren der Pandemie ausgesetzt. Sie haben meist weniger Angst um ihren Job, können eher ins Home Office gehen und können ihre Miete auch einige Monate mit weniger Einkommen bezahlen.